Composable Commerce: die technische Basis für den E-Commerce der Zukunft
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind,“ sagte einst Albert Einstein. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf E-Commerce übertragen.
Dass die E-Commerce-Kanäle vieler Händler und Marken noch immer weitgehend aussehen wie vor 10 Jahren, hat Gründe: Die digitalen Plattformen sind ausgereizt und erlauben keinen wirklichen Fortschritt mehr. Um Customer Experiences für die Kunden von heute bieten zu können, braucht es daher einen ganz neuen Ansatz.
Den Ansatz gibt es bereits und er heißt: Composable Commerce; der Begriff wurde 2020 vom IT-Analystenhaus Gartner geprägt. Was genau ist Composable Commerce, welche Vorteile und Herausforderungen bringt er mit sich? Die Antworten liefert dieser Artikel.
Was ist Composable Commerce?
Composable Commerce beschreibt eine technische Architektur für E-Commerce-Plattformen: Sie wird in einer Cloud-Umgebung betrieben und besteht aus vielen unabhängigen, wiederverwendbaren Modulen. Diese können flexibel miteinander kombiniert werden. Im Gegensatz dazu stehen herkömmliche E-Commerce-Plattformen (Online-Shop-Lösungen), die aus großen, starren Software-Lösungen bestehen.
Durch Composable Commerce werden Händler und Marken einerseits viel flexibler und agiler: Sie können eine Plattform schaffen, die genau auf ihre Anforderungen zugeschnitten ist. Außerdem sparen sie in der Entwicklung und im Betrieb Kosten. Andererseits können sie damit die steigenden Kundenerwartungen erfüllen und hervorragende Omnichannel Customer Experiences bieten.
Im Composable Commerce liefert jedes Modul eine oder mehrere Funktionen oder Fähigkeiten, die ein Unternehmen benötigt, wie:
Produktkatalog
Warenkorb und Checkout
Suche
Warenwirtschaft
Zahlung
Versand- und Lieferservices
Kundenservice-Chat
Bewertungen
Content
E-Mails
Marktplätze und Dropshipping
Frontends: Online-Shop, Apps, Digital Signage usw.
Analytics
Technische Grundlagen von Composable Commerce
Eine herkömmliche E-Commerce-Software ist als Komplettlösung gedacht: Sie bietet mehr oder weniger alle Funktionen, etwa für den Betrieb eines Online-Shops. Sie hat eine starre, monolithische Architektur: Alle Bestandteile sind eng miteinander verwoben und können nicht getrennt werden. Diese Lösung ist in sich geschlossen; sie kann, wenn überhaupt, nur eingeschränkt mit anderen Lösungen wie einem CMS integriert werden.
Eine Composable-Commerce-Lösung ist grundlegend anders konzipiert: Sie ist aus kleinen Komponenten zusammengesetzt, den Microservices. Jeder Microservice stellt eine Funktion zur Verfügung. Die Funktionen können zu größeren Paketen geschnürt werden, den sogenannten Packaged Business Capabilities.

Die einzelnen Microservices sind unabhängig voneinander lauffähig. Im Gegensatz zu monolithischer Software sind sie offen: Sie tauschen untereinander über Schnittstellen oder APIs standardisierte Daten aus. Dadurch können praktisch alle Microservices miteinander kombiniert werden; außerdem können sie mehrfach in verschiedenen Kontexten verwendet werden. Die gesamte Plattform bleibt dadurch stets flexibel, ganz egal, wie groß sie ist. Einzelne Funktionen können jederzeit hinzugefügt oder herausgelöst werden.
Dass dieser Ansatz sowohl Effizienz als auch Effektivität mit sich bringt, beschreibt auch Werner Vogels (CTO & VP amazon.com) auf seinem Blog. So bietet eine auf Microservices basierende Architektur die Möglichkeit, einzelne Bestandteile selbiger flexibel zu verwalten ohne die Lauffähigkeit der Gesamtarchitektur zu minimieren. „Es ist wichtig, dass wir in der Lage sind, einzelne Teile des Systems zu verwalten, ohne das Gesamtsystem herunterfahren zu müssen.”
Lesen Sie die folgenden Artikel, um tiefer in die technischen Grundlagen des Composable-Konzepts einzutauchen:
Welche Vorteile hat Composable Commerce gegenüber herkömmlichen E-Commerce-Plattformen?
Wie wirkt sich die Composable-Architektur im Alltag aus? Welche praktischen Vorteile ergeben sich daraus: sowohl für die IT als auch für Marketing und Vertrieb?
Flexiblere Plattform
Der modulare Aufbau von Composable Commerce gibt Unternehmen große Flexibilität. Sie können die E-Commerce-Plattform exakt an ihre Anforderungen anpassen und nach dem Best-of-Breed-Ansatz zusammenstellen. Sie können jede einzelne Funktion beeinflussen und sind nicht an den Standardumfang von Komplettlösungen gebunden.
Stabil und leistungsfähig
Durch die einzelnen Module wird die Plattform äußerst stabil. Fällt eine Komponente aus, laufen die anderen weiter. Außerdem ist sie leicht skalierbar: Bei Belastungsspitzen werden einzelne Microservices (automatisch) dupliziert; so können sie ein Vielfaches an Anfragen verarbeiten. Sinkt die Nutzung wieder, werden die Instanzen gelöscht.
Entwicklung und Betrieb beschleunigen, Kosten sparen
Wenn neue Funktionen oder Prozesse benötigt werden, können diese einfach über neue Microservices integriert werden. Updates und Wartungen werden immer nur an einzelnen Modulen ausgeführt. Die Plattform als Ganzes muss nicht jedes Mal angepasst werden und es sind in der Regel auch keine Downtimes erforderlich. Dadurch werden Entwicklung und Betrieb einfacher, die Komplexität sinkt.
Neue Funktionen müssen auch nicht selbst entwickelt werden; stattdessen können Unternehmen Tools und einzelne Microservices externer Anbieter in ihre Plattform integrieren; durch die standardisierte APIs funktioniert das reibungslos.
Nicht benötigte Funktionen dagegen können jederzeit entfernt werden. Dadurch lassen sich Lizenzkosten und Cloud-Ressourcen einsparen.
Schnellere Markteinführung
All diese beschriebenen Vorteile befähigen ein E-Commerce-Unternehmen, neue Funktionen oder Angebote schneller zu testen und einzuführen. Dafür waren bisher oft längere Projekte und umfangreiche technische Weiterentwicklungen an der Plattform erforderlich. Stattdessen können Unternehmen nun neue Microservices oder Packaged Business Capabilities mit relativ geringem Aufwand in ihre Plattform integrieren.
Beispiele:
Ein Händler möchte Waren über seinen Online-Shop international verkaufen. Er integriert die Zahlungs- und Lieferoptionen für die neuen Länder über einen externen Anbieter in seinen Shop.
Ein Hersteller möchte seine Produkte als Abonnement verkaufen. Er integriert eine Abo-Management-Lösung in seine Plattform, die alle nötigen Funktionen von der Bestellung bis zum regelmäßigen Versand mitbringt.
Ein Händler hat mit stark schwankender Nachfrage und Problemen in der Lieferkette zu kämpfen. Er integriert vorübergehend Dropshipping-Anbieter in seinen Online-Shop, um die Spitzen und Engpässe zu überbrücken.
Customer Experience verbessern
Nicht zuletzt können Hersteller und Händler ihren Kunden durch Composable Commerce höherwertige Customer Experiences bieten. Dabei stechen primär zwei Aspekte heraus.
Omnichannel Commerce
86 Prozent des gesamten Umsatzwachstums im Online-Einzelhandel bis 2024 wird aufs Konto von Omnichannel Commerce gehen, so schätzt eine Studie von Google. Unternehmen müssen ihren Kunden also verschiedene digitale E-Commerce-Kanäle anbieten: Online-Shop und App sind nur die Basics. Auch digitale Kanäle und stationäre Geschäfte (POS) müssen integriert werden.
Dieses Ziel ist mit Composable Commerce leichter zu erreichen: Neue E-Commerce-Kanäle oder -Frontends können, wie oben beschrieben, einfach in die vorhandene Plattform integriert werden. Ebenso können die Kunden leicht zwischen den einzelnen Kanälen wechseln. Die Komponenten der Plattform arbeiten nahtlos zusammen und greifen auf denselben Datenbestand zu.
Personalisierung
Composable Commerce unterstützt dabei, die riesigen Potenziale von Personalisierung zu heben. Zum einen können solche Funktionen einfach in die E-Commerce-Kanäle integriert werden: zum Beispiel Produktempfehlungen, die auf den Vorlieben der einzelnen Kunden basieren.
Zweitens ermöglicht Composable Commerce auch die Personalisierung über alle Kanäle hinweg: Kunden erhalten überall personalisierte Erlebnisse, ohne Bruch, etwa beim Wechsel zwischen Shop und App. Da Daten auf allen E-Commerce-Kanälen gesammelt und dann zusammengeführt werden, generieren Unternehmen viel mehr und genauere Kundendaten. Damit können sie ihre Angebote und Inhalte noch besser auf die Kunden zuschneiden.
Herausforderungen bei der Einführung von Composable Commerce
Bei aller Begeisterung für Composable Commerce: der Umstieg von einer herkömmlichen IT-Architektur oder einer E-Commerce-Komplettlösung bringt einiges an Aufwand und Herausforderungen mit sich.
Je nachdem, wie modern die aktuelle Basis-IT-Landschaft ist, sind kleinere oder größere Transformationen notwendig. Bevor es an den Aufbau der E-Commerce-Plattform geht, muss die IT bereits modular konzipiert sein, also auf Basis von Microservices und APIs in einer Cloud-Umgebung betrieben werden.
Der Vorteil von Composable Commerce – die Flexibilität – ist zunächst eine Herausforderung. Bisher waren durch die E-Commerce-Lösung mehr oder weniger alle erforderlichen Funktionen vorhanden. Nun muss die Plattform mit den einzelnen Funktionen und Fähigkeiten neu aufgebaut werden.
Eine detaillierte Planung ist der Schlüssel: Welche Funktionen benötigen wir? Woher bekommen wir diese? Auf welche können wir eventuell zunächst verzichten? In welchen Schritten bauen wir die Plattform auf und aus – ein großer Relaunch oder lieber agil vorgehen? Dabei sollten Unternehmen alle Stakeholder einbinden, die später mit der Plattform arbeiten werden.
Auch die Migration der Daten muss systematisch angegangen werden. Oft liegen die Daten verstreut in mehreren Systemen, in nicht miteinander kompatiblen Formaten. Sie müssen konsolidiert und zusammengeführt und die Prozesse rund um Datenpflege neu organisiert werden.
Der Aufwand lohnt sich jedoch: Durch die im Artikel beschriebenen Zugewinne und Einsparungen amortisiert sich der Aufwand für ein Composable-Commerce-Setup relativ schnell. Davon abgesehen: Für Unternehmen, die ihre Marktposition im E-Commerce verteidigen und ausbauen möchten, ist der Umstieg zum Composable Commerce alternativlos.